Mittwoch, 30. September 2009

Der tiefere Sinn


Eine Zen – Geschichte

In einem Zen - Kloster wurde der Mönch Sosan erleuchtet. Die (persönlichen) Götter erfuhren davon und kamen auf die Erde, um Sosan zu sehen, denn auch für Götter ist es ein erhebendes Erlebnis, ins Angesicht eines Erleuchteten zu schauen. Sie besuchten das Kloster, doch wo sie auch suchten, sie konnten Sosan nicht finden. Denn Sosan war nicht mehr da. Es gab keinen Sosan mehr. Jedenfalls gab es, wo Sosan war, kein Gesicht zu sehen, denn Sosan hatte sich im Ungeborenen aufgelöst. Weil die Götter aber so gern Sosan sehen wollten, ersannen sie eine List: Sie verschütteten Reis auf einem Weg im Klostergarten, versteckten sich hinter einem Busch und warteten. Nach endloser Zeit kam Sosan des Wegs, lautlos und unsichtbar. Doch als er die Reiskörner auf dem Weg verstreut sah, durchschoß ein Gedanke seinen leeren Kopf, eine ärgerliche Reaktion: „Wer war das?“
In diesem Gedankenblitz konnte die Götter einen Augenblick lang Sosans Gesicht sehen.
Beglückt flogen sie wieder nach Haus.


In einem Zen - Kloster wird jedes einzelne Reiskorn mit Respekt behandelt. Reis achtlos zu verschütten gilt als schlimmes Vergehen. Die persönlichen Götter hatten also, modern ausgedrückt, einen von Sosans Knöpfen gedrückt. Das geht nämlich bei Erleuchteten genauso wie bei Unerleuchteten, wenn man nur weiß, wo die Knöpfe der lichtüberstrahlten, dunklen Persönlichkeitsanteile verborgen sind.
Die Bedeutung der Geschichte von Sosan liegt in dessen empörten Gesicht: „ Wer war das?“
Niemand war das, Sosan. Das bist du selbst.
Nur wo er oder sie durch Gefühle und Gedanken durch die Persönlichkeit wirkt, kann ein erleuchteter Mensch gesehen werden. Nur an diesem Ausdruck wird er gemessen werden. Wer diesen persönlichen Ausdruck mit „inneren Kreisen“ verstellt, hat offensichtlich etwas zu verbergen. Das fordert die Provozierenden Tests seiner verneinten Teilselbste heraus. Die Lichtgestalt kippt ins Dunkle ab.

Diese Einseitigkeit gibt Schlagseite und lässt stolze Schiffe plötzlich sinken.
Denn es gibt sicherlich die erleuchtete Realität des Formlosen.
Aber neben ihr räuspert sich auch die ganz irdische Persönlichkeit mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen.
In den Götterhimmeln der Hindus oder der alten Griechen ist diese Balance durch gegensätzliche Gott-Charaktere wie den rationalen Apollo und die verführerische Aphrodite gespiegelt. Eine Lebensweisheit des antiken Griechenland besagt, der Mensch solle alle Götter ehren. Wer sich nur einem Gott verschreibt, lebt in Hybris, Selbstüberhebung, ist aus dem Gleichgewicht gekommen und ignoriert in blinder Arroganz den Rest der Welt. So provoziert er die Rache der vernachlässigten Götter.
Nur wer alle Götter ehrt, also alle Aspekte seiner selbst annimmt, kann die unio mystica, die große Widervereinigung der Gegensätze in sich selbst verwirklichen.

Dies ist ein Auszug aus dem Buch: Die Erleuchtungsfalle – Der Mythos der Meisterschaft von Klaus P. Horn, Seiten 178/179 aus dem Jahre 1997.

Der Inhalt ist ohne Zweifel selbsterklärend.

Ich mag diese Zen-Geschichten sehr, weil ich im ersten Moment denke: “Das ist ja nur ein Märchen“, mich entspanne und mich der Geschichte ohne Vorbehalte hingeben kann. Aber beim zweiten Hinschauen entdecke ich, wie hier von Klaus P. Horn geschildert, den äußerst tiefen Sinn in der Erzählung. Aber dann ist jeder Inhalt schon, ungefiltert von meinem Verstand, komplett in mich hineingesickert und wird keiner Prüfung mehr unterzogen.

Ungeprüft angenommen.
Das ist der tiefere Sinn von Märchen und Geschichten.
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Bild von M. Reinhardt:"Friedenskirche"

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