Freitag, 24. Juli 2009

Maya


"Siehst du Maya?" frage ich.
"Nicht so, wie du sie siehst“ sagt Bob, „aber meiner Auffassung nach…!

„Meinen Hund, Bob! Siehst du meinen Hund?“

Ich stoße einen kurzen Pfiff aus und ein paar Sekunden später kommt sie hinter uns um die Ecke gesprungen und die wilde Jagd nach dem Tennisball geht weiter.

„Für viele offene Menschen, wie du auch einer bist“, fahre ich fort, „ist Spiritualität ein Spaziergang an einem sonnigen Tag, voller hübscher Gedanken an Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Es ist Softcore- Spiritualität, mit softem Schwerpunkt, softer Beleuchtung und softer Musik, total sanft und flauschig und alles spitzt sich einem welterschütternden Höhepunkt zu, der anscheinend nie eintritt. Jeder, der einen echten Prozess des Erwachens durchläuft, würde eine solche Seichtheit mit den gleichen Augen betrachten wie Männer auf einem blutigen Schlachtfeld, die Kinder auf einem Hinterhof Krieg spielen sehen. Du redest von Revolution, aber Revolutionen sind keine Nachmittags- Teekränzchen mit feinem Porzellan und gespreizten kleinen Fingern, es sind höllische Alpträume, aus denen du nicht erwachen kannst. Echte Spiritualität ist ein brutaler Aufstand, bei dem sich der Unterjochte erhebt und seine Freiheit um jeden Preis einfordert. Es ist nichts, was Menschen tun, um sich zu verfeinern, sich Verdienste zu erwerben oder mehr Freude und Bedeutung im Leben zu finden. Es ist der selbstmörderische Angriff auf einen Feind von unvorstellbarer Überlegenheit.“

„Wie bei David und Goliath“, sagt er.

„Tatsächlich, ja, eine guter Vergleich. Unser Goliath ist riesig und mächtig und er sieht alles. Unser David ist mickrig und schwach, dumm und blind. Es gibt in diesem Kampf rein gar nichts, was für ihn spricht, nichts außer seinem Mut zu kämpfen und seinem Stein. Wir können uns diesen Stein als die Wahrheit vorstellen, und die Wahrheit ist es, die den Riesen tötet. Die Wahrheit zerstört alles. Goliath verfügt über alle Macht und jeglichen Vorteil außer der Wahrheit, und deshalb können wir kämpfen und siegen; wir haben Wahrheit und Maya hat sie nicht. Trotzdem ist es nicht mit einem Mal getan, in dem David den Stein wirft und Goliath tot umfällt. Es ist ein langes, hässliches Ringen, weil wir sowohl Freund als auch Feind sind; sowohl David als auch Goliath sind in uns beheimatet. Jeder winzige Landgewinn fordert von uns alles, was wir haben. Die Lektionen werden uns nicht in Form kurioser, kleiner Parabeln geliefert, sondern in Form unwiederbringlichen Verlusten, Lektion für Lektion, Verlust für Verlust. Jeder Schritt ist ein Verlust und solange es noch mehr zu verlieren gilt, gilt es auch noch weitere Schritte zu tun. Alles ist verloren, nichts ist gewonnen.“

„Du sagst also, ich sollte…“

„Überhaupt nicht, Bob. Ich will dich nicht dazu anstiften, eine Revolte zu starten oder einen Aufstand anzuzetteln. Der Traumzustand ist ein Großer Vergnügungspark und ich würde niemals jemanden zu einem Ausbruchsversuch ermutigen. Das wäre ebenso absurd, als würde ich dir vorschlagen, zu deinem eigenen Wohle Selbstmord zu begehen.“

Bob schweigt eine Zeitlang.

„Meine Güte!“ sagt er dann.



Auszug aus dem Buch: „Spirituelle Dissonanz“ von Jed McKenna, Seite 275 – 277, Omega Verlag


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Bild von fotodoc: "pamukkale-eine eigene Welt"

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