Dienstag, 3. November 2015

Der Sinn des Vergangenen




Die vergangenen Jahre haben mich auf eine harte Probe gestellt und tun es heute noch. Meine Lebensgrundlage und die Bestätigung, alles im Griff zu haben, brachen gleichzeitig weg und hinterließen einen gebrochenen Menschen. Nun schäme ich mich nicht mehr, dies zu sagen. Anfangs tat ich es.

Inmitten der Zeit meines Zusammenbruchs verlor ich immer wieder mein Gesicht. Ich wusste vorher nicht, wie wichtig es mir war, ein Bild von mir aufrecht zu erhalten, mit dem die Menschen mich kannten. Und welches ich auch verkörpern wollte. Mein Leben lang habe ich mich dagegen gewehrt, das zu tun, was andere von mir erwarten. Nun konnte ich damit aufhören, weil man nichts mehr erwartete.

Sich selber anzusehen, in einen Spiegel zu blicken, der keinen Schleier mehr trägt und nichts von einem mehr verbirgt, ist mehr als schmerzhaft. Denn er nimmt jede Illusion. Warum nur, fragte ich mich, gelingt es einem vorher nicht, zu sehen, wer man ist wie man ist?

Der Schleier ist fort, der Vorhang gerissen. Das ganze Schauspiel ist vorbei – aber nicht das Leben.

Dieses Leben ist und bleibt eine Prüfung, aus der man ge/erwachsen hervorkommt oder weiter vor der Realität davonläuft. Es gehört dazu, immer wieder tief zu fallen und wieder aufzustehen - ob man nun will oder nicht. Und immer wieder, wenn ich mich besonders sicher und getragen gefühlt habe, brach meine Welt zusammen. So dass ich manchmal nur noch gebetet habe: „Lieber Gott, lass es das letzte Mal gewesen sein. Lass mich endlich in Ruhe – ich kann nicht mehr“.

Ich weiß nicht, ob es jemanden gibt, der überhaupt meinen Gebete zuhört oder ob da niemals jemand war. Das Schlimmste für mich war das Gefühl, allein dazustehen; gefangen in meiner eigenen kleinen Welt, völlig unfähig zu begreifen, warum das alles geschehen muss.

Der Erweckungsgedanke ist mir so fern wie noch nie in meinem Leben. Als hätte es ihn nie gegeben. Wenn man am Bodensatz seines Lebens angekommen ist, wird auch der Sinn des Lebens angezweifelt. Das ist ganz normal und geht wohl vielen Menschen so. Doch was ist, wenn man am Ende gar herausfindet, dass es tatsächlich gar keinen eigentlichen, sondern nur einen individuellen Sinn gibt? Ein eigener, selbst gemachten Sinn, mit dem man sein Leben füllt? Warum denn auch nicht? Solange er nicht zerstört wird, ist ja auch alles in Butter.

Und wenn doch, dann sucht man sich einen Neuen.

So wurde mir zumindest angeraten und man wunderte sich, dass ich das einfach nicht konnte, nichts fand, scheinbar nicht in der Lage dazu bin. Oder einfach nicht mehr will: Suchen.


Wenn ich das Ganze nun im Rückblick betrachte, fällt mir eines dabei besonders auf:

Schicksalsschläge dienen immer wieder dazu, die Welt klarer zu sehen. Also gehe ich weiterhin mit offenen Augen und wachem Geist durchs Leben. Egal, ob es nun Sinn macht oder nicht.


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Foto von: Mike Behnken: "Sun, Hills and Fog. Marine Headlands"

2 Kommentare:

  1. So ein schöner Text und so viel Wehmut und doch MUT dahinter. Danke für Dein Zeigen! Leider hat meine Seele die Deine erst heute gefunden ��

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  2. ...genau so ist es, das Leben, und genauso sind wir: mal mutig, mal wehmütig, und auch mal stark - aber immer wir selbst. Das alles ist ein Teil von uns.
    Dies zu entdecken ist mal ein Abenteuer und mal eine schmerzhafte Erfahrung.

    Lieben Dank für Deine Zeilen.

    Herzlichen Gruß an Dich von Annie

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